Wenn man durch taiwanische Städte läuft, fällt schnell auf: Viele ältere Gebäude haben ihre Fenster und Balkone mit Metallgittern versehen – oft sehen sie wie Käfige aus. Im Chinesischen nennt man sie 鐵窗 (tiěchuāng), was wörtlich „Eisenfenster“ bedeutet.

Natürlich ergibt es Sinn, Fenster im Erdgeschoss mit Gittern zu sichern. Doch diese Konstruktionen finden sich nicht nur unten – sie reichen bis in die oberen Etagen: den zweiten, dritten oder sogar zehnten Stock und darüber hinaus.
Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wozu dienen solche Gitter in luftiger Höhe?

Erster Eindruck: Schutz vor Taifunen?
Als ich vor über zehn Jahren nach Taiwan kam, habe ich mir genau dieselbe Frage gestellt.
Meine erste Vermutung war, dass sie vielleicht als Schutz bei Taifunen dienen. Ich stellte mir vor, dass herumfliegende Trümmer oder größere Gegenstände durch die Luft geschleudert werden und Fenster zerschlagen könnten. Aber nach vielen Jahren in Taiwan – und einigen miterlebten Taifunen – wurde mir klar: So stark ein Taifun auch sein kann, in städtischen Gebieten schleudert der Wind normalerweise keine großen Objekte in große Höhen. Ich habe so etwas nie gesehen und auch nie von Fällen gehört, bei denen Fenster in höheren Etagen durch herumfliegende Gegenstände beschädigt wurden.
Außerdem haben Neubauten in der Regel keine Fentergitter. In vielen Fällen sind sie aus ästhetischen Gründen sogar verboten. Wenn der Schutz vor Taifunen wirklich der Hauptgrund wäre, müssten auch neue Gebäude solche Gitter haben. Das scheint also nicht die eigentliche Ursache zu sein.
Angst vor Einbruch: Reaktion auf die Einbruchswelle der 1980er
Nach etwas Recherche im Internet und Gesprächen mit Einheimischen bin ich auf einige plausible Erklärungen gestoßen.
In den späten 1980er Jahren kam es in Taiwan zu einer Welle von Einbrüchen. Es gibt Berichte, dass Einbrecher sogar bis auf die Dächer gelangten und sich mit Seilen zu den Fenstern in höheren Etagen abseilten. Außerdem sind viele Fenster in Taiwan sehr einfach konstruiert und sie lassen sich leicht von außen öffnen. Ob diese Dach-Einbrüche wirklich weit verbreitet waren oder nicht, lässt sich schwer sagen. Aber die Medien haben das Thema vermutlich aufgebauscht, was bei vielen Menschen Angst ausgelöst und zur massenhaften Installation von Gittern geführt hat.

Schutz vor dem Hinausfallen – für Menschen und Tiere
Ein weiterer möglicher Grund ist das genaue Gegenteil: nicht der Schutz vor Eindringlingen, sondern davor, dass Menschen hinausfallen. Es hat leider tragische Vorfälle gegeben, bei denen Kinder beim Spielen ein Fenster geöffnet und dann herausgefallen sind. Und es gibt leider auch Fälle, in denen Menschen absichtlich aus Fenstern gestürzt sind. Solche Ereignisse könnten dazu beigetragen haben, dass Fenster- und Balkongitter als Sicherheitsmaßnahme populär wurden.
Auch für Tierhalter bieten sie ein gutes Stück Sicherheit. Ich kenne mehrere Menschen, die Katzen oder kleine Hunde halten und die Gitter nutzen, damit ihre Tiere nicht aus offenen Fenstern springen oder fallen können.
Praktische Nutzung: Pflanzen, Wäsche und mehr Raum
Dann gibt es noch den ganz praktischen Aspekt. Ich habe selbst in mehreren Wohnungen mit solchen Gittern gewohnt und festgestellt, dass sie oft mehrere Zwecke erfüllen. Viele Gitter ragen außen um Fensterrahmen oder Balkone herum und schaffen so zusätzlichen Nutzraum – ideal, um Pflanzen abzustellen oder Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Manche dieser Konstruktionen sind durchdacht gestaltet und erinnern an kleine Erker. Tatsächlich gibt es Gebäude, bei denen anstelle von Gittern richtige bauliche Erweiterungen eingebaut wurden. Eine Familie, die ich kenne, hat ihren verglasten Balkon zu einer gemütlichen Erweiterung des Wohnzimmers gemacht – fast wie ein kleiner Wintergarten.

Sichere Lagerung auf dem Balkon
Ein weiterer, oft übersehener Grund ist die Lagerung von Haushaltsgegenständen. Viele Balkone werden genutzt, um Fahrräder, Gasflaschen oder sogar Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen oder Kühlschränke abzustellen. Die Gitter geben das Gefühl von mehr Sicherheit – vor allem, wenn der Balkon zur Straße oder zu einer Gasse zeigt.

Privatsphäre in dicht besiedelten Stadtvierteln
In den dicht bebauten Städten Taiwans bieten die Gitter auch ein Stück Privatsphäre. Die Gebäude stehen oft sehr nah beieinander – Nachbarn sind manchmal nur wenige Meter entfernt. Die Gitter helfen, Fenster und Balkone vor neugierigen Blicken zu schützen und verringern auch die Gefahr, dass etwas zwischen den Wohnungen geworfen oder fallen gelassen wird.
Ein kulturelles Muster – und eine Gewohnheit
Es gibt aber auch einen kulturellen Aspekt. In den 80er und 90er Jahren wurden diese Gitter zu einer Art Trend – ja fast zu einer sozialen Norm. Viele Familien empfanden sie als notwendig, auch wenn die tatsächliche Gefahr gering war. Es wurde zur Gewohnheit, von Generation zu Generation weitergegeben – ähnlich wie Fliegengitter in westlichen Ländern: standardmäßig vorhanden, kaum hinterfragt.
Viele Gründe – und ein verborgenes Risiko
Im Laufe der Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht den einen Grund gibt. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus praktischen Überlegungen, Sicherheitsbedürfnis und sozialen Gewohnheiten. Irgendwann wurden Einbruchgitter einfach zum Standard. Viele Menschen installierten sie nicht unbedingt aus Notwendigkeit, sondern weil es alle anderen auch machten – oder weil man dachte, es gehöre einfach so.
Doch es ist gut zu sehen, dass sie langsam verschwinden. Denn es gibt auch eine Schattenseite. Wohnungsbrände sind in Taiwan leider keine Seltenheit – und diese Gitter können zur tödlichen Falle werden. In mehreren Fällen konnten Menschen nicht entkommen, weil sie durch die Gitter eingeschlossen waren, und Feuerwehrleute kamen verzögert ins Gebäude.
Ein fester Bestandteil der Stadtlandschaft Taiwans
Auch wenn sie heute seltener werden – vor allem in neueren Gebäuden –, haben sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Diese Eisenfenster und Balkonkäfige sind zu einem ikonischen Bestandteil der taiwanischen Stadtlandschaft geworden. Sie sind mehr als nur ein Sicherheitsmerkmal. Für viele von uns gehören sie einfach zum typischen Erscheinungsbild eines Gebäudes in Taiwan. Man kann sich ältere Stadtviertel kaum ohne sie vorstellen.
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