Warum ist Taiwans Straßenverkehr so gefährlich? – Ein Erklärungsversuch

Unter Ausländern ist der Straßenverkehr Taiwans berühmt-berüchtigt. In zahlreichen Zeitungskolumnen, Blogs und Videos lassen Ausländer ihren Ärger über das schlechte Verhalten taiwanesischer Verkehrsteilnehmer ab. Unterhält man sich mit anderen Ausländern über den Verkehr in Taiwan, dann scheint jeder einige haarsträubenden Geschichten zu kennen. Ich bin selber viel mit dem Auto in Taiwan unterwegs und habe auch schon so einiges erlebt. Gott sei Dank nie etwas Furchtbares, aber dennoch zahlreiche Situationen bei denen ich mich gefragt habe, ob die Leute ihren Führerschein im 7-Eleven gekauft haben.

Schnell kommt dann die Frage auf, wieso der Straßenverkehr so beklagenswert ist. Wieso fahren Taiwanesen so schlecht Auto oder Scooter oder Bus oder LKW? Warum sind hier fast alle so rücksichtslos unterwegs? Weshalb hält man sich nicht an die einfachsten Verkehrsregeln?

Mittlerweile habe ich so meine Theorie. Ein Schlüsselerlebnis, welches mir die Augen geöffnet hat, war die Zeit in der Fahrschule um den taiwanesischen Führerschein zu machen. Mittlerweile kann man seinen deutschen Führerschein einfach in den taiwanesischen umschreiben lassen. Vor einigen Jahren war das aber noch nicht möglich und man musste eine Führerscheinprüfung hier ablegen. Wobei damals die taiwanesische Führerscheinbehörde selber nicht so genau wusste welche Regeln für Ausländer gelten, so dass einige den taiwanesischen Führerschein einfach so bekommen haben, andere mussten nur eine theoretische Prüfung machen, andere nur eine praktische Prüfung, und ganz andere mussten alles machen. Ich war natürlich der Glückliche der alles machen musste.

Neben dem sehr hohen Verkehrsaufkommen gibt es meiner Meinung nach für das schlechte Verhalten im taiwanesischen Straßenverkehr zwei Hauptgründe.

1. Fahrschulausbildung geht an der Realität vorbei

Um es kurz zusammenzufassen, die Fahrschulausbildung in Taiwan hat nichts mit der Realität im Straßenverkehr zu tun. Der Fokus der Ausbildung liegt auf der Bedienung eines Fahrzeuges, aber nicht auf der Teilnahme am Straßenverkehr.

Etwa 90% der Zeit verbringt der Fahrschüler auf einem Verkehrsübungsplatz und fährt einen standardisierten Parkour ab. Hierbei wird unglaublich viel Wert daraufgelegt, dass man das Fahrzeug korrekt und fehlerfrei durch die Stationen im Parkour bewegt. Die Stationen die man absolviert sind: rückwärts in eine „Garage“ einparken, parallel parken, eine S-Kurve fahren und rückwärts wieder raus, an einer Einmündung abbiegen, an einem Bahnübergang und einer roten Ampel anhalten, auf einer geraden Strecke „beschleunigen“, am Berg anfahren und an einem Zebrastreifen anhalten.

Die Dinge die man lernt sind schon nicht verkehrt und durchaus sinnvoll. Aber das Verrückte ist, dass sehr viel Wert auf Banales gelegt wird. Das Einparken muss in einem Zug und absolut fehlerfrei geschehen. Wenn das Auto nur ein paar Zentimeter zweit links oder rechts steht, gibt es Strafpunkte. Und die Parklücken auf dem Übungsplatz sind verdammt eng. So eine Parklücke sucht sich kein normaler Mensch in der realen Welt aus. Außerdem, wo ist das Problem, wenn man mehrere Anläufe zum Einparken braucht? Bei meiner Fahrprüfung in Deutschland durfte man das Einparken wiederholen, wenn es beim ersten Mal nicht geklappt hat.

Auch die berühmte S-Kurve, an der sehr viele scheitern und deswegen durchfallen, macht kaum Sinn. Okay, vielleicht wenn man viel in den Bergen auf engen Straßen unterwegs ist, dann ist es Sinnvoll sowas zu können. Aber wie oft kommt man da in so eine Situation?

Verkehrsübungsplatz mit den prüfungsrelevanten Stationen: A = Rückwärts einparken, B = parallel parken, C = S-Kurve, D = anhalten am Bahnübergang, E = anhalten an einer roten Ampel, F = beschleunigen und abbremsen, G = anfahren am Berg, H = anhalten am Zebrastreifen, I = Start/Ende.

Falsche Lernziele in der Fahrschule

Und der Knaller war, zumindest in meiner Fahrschule, dass die Autos und der Parkour mit Markierungen gespickt waren, die dem Fahrschüler helfen sollen die Übungen zu meistern. Der Fahrlehrer hat mir dann erklärt, dass eine Markierung im Auto (z.B. ein Kratzer auf der Motorhaube) mit einer Markierung auf dem Übungsplatz (z.B. ein alter Wassereimer, der ganz zufällig dastand) auf einer Linie sein müssen. Wenn man dann noch bis zur nächsten Markierung zurücksetzt, voll einschlägt und langsam weiterfährt, dann et voilà ist man perfekt in der Parklücke drin. So war das bei fast allen Stationen.

Ich habe das dann immer scherzhaft „geometrisches Autofahren“ genannt, weil man sein Gehirn überhaupt nicht benutzen musste und nur diese Anweisungen mechanisch umsetzen brauchte. Am Ende ging es auch nur darum, dass die Fahrschüler auf die Prüfung vorbereitet werden und nicht ob man wirklich Autofahren konnte. Später gibt’s ja auch keine Markierungen die einem beim Einparken helfen.

Die berüchtigte S-Kurve an der schon so mancher Traum vom Führerschein zerplatzt ist.

Kaum Teilnahme am fließenden Verkehr

Die restlichen 10% der Zeit darf der Fahrschüler tatsächlich mal das Gelände verlassen und im echten Straßenverkehr teilnehmen. In meinem Fall war das aber eher wie ein schlechter Witz. Wir sind vom Fahrschulgelände durch kleine Seitenstraßen auf eine Hauptstraße gefahren. Auf der Hauptstraße dann immer ganz rechts auf so einer Art Standstreifen gefahren. Aber auch ja nicht zu schnell, 40 km/h war das Maximum. Am Ende der Straße einen U-Turn gemacht. Selbe Straße zurück, einmal abbiegen und dann zurück aufs Fahrschulgelände. Zwischendurch muss man noch anhalten und so tun als ob man einen Fahrgast absetzt oder aufnimmt. Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmer gab es nicht. Auch keine Variation der Fahrstrecke.

Als Fahrschüler draußen zu fahren empfand ich so weltfremd. Ich hatte zu dem Zeitpunkt ja schon viel Fahrpraxis in Taiwan und musste mich total beherrschen in diesem bescheuerten Fahrschulstil zu fahren. Mit dem Fahrschulauto so langsam auf der Hauptstraße herumzuschleichen empfand ich als lebensgefährlich. Der Verkehr flog um uns nur herum. Wir wurden komplett ignoriert und ich kam mir eher wie ein Verkehrshindernis vor.

Focus auf auswendig lernen und nicht auf verstehen

Theoretische Ausbildung gibt’s auch. Die Taiwanesen mussten dazu zum Unterreicht gehen, die Ausländer brauchten das nicht. Deswegen weiß ich nicht, ob man in dem Unterricht mehr zum Verhalten im Straßenverkehr gesagt bekommt als aus den Prüfungsfragen ersichtlich war. Ich bezweifle das aber. Von Freunden weiß ich, dass im Unterricht unzensierte Videos von schweren Unfällen gezeigt werden. Soll wohl als Abschreckung dienen.

Für die theoretische Prüfung habe ich alle Fragen gelernt, bis ich alle Antworten auswendig kannte. Das Problem war nämlich, dass es bei den multiple choice Fragen nicht um Logik und Verständnis geht. Man kann die richtige Antwort oft nicht herleiten, weil alle Antworten sehr ähnlich sind und sich teilweise nur um ein paar Worte unterschieden. Interessant war auch, dass es keine Fragen zu Vorfahrtsregeln und zum Verhalten an Kreuzungen gab. Damals in Deutschland gab es immer diese Bilder mit Autos A, B und C, die sich einer Kreuzung näherten und man antworten musste, wer vorfahrt hat. Oder wer da etwas falsch macht.

Fahranfänger starten unvorbereitet in den Straßenverkehr

Wie schon gesagt, die Fahrschule und Prüfung hat nichts mit der Realität zu tun. Denn man lernt nicht, wie man im Straßenverkehr teilnimmt. Es gibt keine ausgiebigen Fahrten durch die Stadt, es gibt keine Nachtfahrten, es gibt keine Autobahnfahrten, es gibt keine Überlandfahrten. Nach der Prüfung darf der frischgebackene taiwanesische Autofahrer sofort und ohne jegliche reale Erfahrung am Straßenverkehr teilnehmen. Und das Ergebnis sieht man dann jeden Tag auf den Straßen hier. Die Leute wissen einfach nicht wie man vernünftig fährt. Und man lernt dann von den anderen, nach dem Motto „monkey see, monkey do“. Problem ist nur, dass die anderen es auch nicht wissen wie es richtig geht.

Zum Beispiel auf Autobahnen kann man sehr gut sehen, dass niemand den Taiwanesen beibringt wie man sie richtig benutzt. Das Konzept von Beschleunigungs- und Verzögerungsstreifen ist unbekannt. Man juckelt langsam auf die Beschleunigungsspur, schert auf die rechte Fahrspur ein und tritt dann sanft aufs Gas. Dasselbe vor Ausfahrten, man bremst schonmal vor dem Verzögerungsstreifen ab, damit man ja nicht zu schnell darauf abbiegt.

Man kann den Verkehrsteilnehmern da keine Vorwürfe machen. Die Politik ist eindeutig schuld, da sie versäumt hat, die Fahrschulausbildung zu modernisieren und den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Für mich sieht es aus, als sei die Fahrschulausbildung noch aus der japanischen Kolonialzeit, wo sich nur wenige Reiche ein Auto leisten konnten und die meisten noch mit Ochsenkarren oder Fahrrädern unterwegs waren.

2. Keine Verkehrspolizei

Die Aufgaben der taiwanesischen Polizei liegen hauptsächlich im Bereich der Verbrechensbekämpfung. Ahndung von Verkehrsverstößen fällt nicht in den Aufgabenbereich der Polizei hier. Zumindest so wie ich das hier mitbekommen habe. Also wenn man vor den Augen der Polizei, z.B. ein Sperrlinie überfährt oder abbiegt, wo man nicht abbiegen darf, dann wird nicht eingegriffen. Man kann geblitzt werden und auch Strafzettel fürs Falschparken bekommen. Aber sonst habe ich hier noch nie gesehen, dass jemand mal von der Polizei angehalten wurde und einen Strafzettel bekommen hat.

Und jetzt verstärkt sich das Problem der mangelhaften Fahrschulausbildung. Denn durch das Fehlen einer Verkehrspolizei gibt es kein korrigierendes Eingreifen. Also es gibt niemanden, der den schlecht ausgebildeten Verkehrsteilnehmen, mal die Leviten list. Es gibt nichts besseres, als nach einem Verkehrsverstoß gleich angehalten und an Ort und Stelle dafür abgestraft zu werden. Da lernt man sehr schnell was erlaubt ist und was nicht. Hat bei mir damals in Deutschland ein paar Mal gut funktioniert.

Was kann man verbessern?

Die Lösung des ganzen ist relativ einfach. Die Fahrschulausbildung mal auf den Stand vom 21.Jahrhundert bringen und der Polizei mal in den Hintern treten, dass sie anfangen Strafzettel zu schreiben. Leider wird das alles nicht passieren. Es wäre viel zu viel Aufwand und würde der Bevölkerung nicht gefallen, was am Ende noch Wählerstimmen kosten könnte. Außerdem haben sich die Taiwanesen ohnehin an den Verkehr gewöhnt. Es sind ja nur die Ausländer, die sich daran stören und die gehen ja eh irgendwann wieder zurück in ihr Heimatland.

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